Wie viele Erwartungen kann ein Album ertragen, wie viele unterschiedliche Ansprüche in sich vereinen, bevor es unter der schieren Last von Bedeutsamkeiten zusammenbricht? Wer bereits einmal der Schönheit dieser Musik erlegen war, wird sich diese Frage bei "The Crying Light", dem dritten Album von Antony & The Johnsons, vielleicht stellen. Oder sich in den Zustand unschuldiger Unwissenheit zurückwünschen, um sich einmal mehr unvoreingenommen überwältigen zu lassen. ~ Stefan Weber (teleschau) aufklappen »
Dass sich dieser Wunsch erfüllt, ist fast schon utopisch. Dazu gab es in den letzten drei Jahren zu viele Berührungspunkte mit Anthony Hegarty und seiner Musik. Die Kritik feierte das Vorgängeralbum einhellig als Meisterwerk, "I Am A Bird Now" erhielt 2005 sogar den renommierten britischen Mercury Music Prize. Die fast schon traditionalistische Einfachheit, die absolut entwaffnende Ehrlichkeit und emotionale Dichte seiner Kammerpop-Songs, in denen Antony über die Sehnsucht nach Intimität ("Hope There's Someone") und sexuelle Identitäten ("For Today I'm A Boy") sang, war aber auch tatsächlich unerhört und unübertroffen. Aber selbst wer "I Am A Bird Now" nicht kennenlernte, stieß womöglich auf seine Zusammenarbeiten mit Lou Reed, Björk, Rufus Wainwright, Hercules & Love Affair oder zuletzt Marianne Faithfull.
Alle diese Namen, Referenzen, Kontexte und Erwartungshaltungen kann man aber getrost außen vor lassen. Selbst die bedeutungsschwangere Erklärung Antonys, "The Crying Light" sei ein Appell für einen rücksichtsvolleren Umgang mit Mutter Natur, ist - wenn überhaupt - nur zweitrangig für dessen Rezeption. Denn das Album zerbricht eben nicht unter den bedeutungsschweren Lasten, sondern erhebt sich zu voller Schönheit - dank Antonys Stimme. Die gewisse opernhafte Exaltiertheit, das ständige Oszillieren zwischen Männlich- und Weiblichkeit, die Gebrochenheit und unbändige, ehrliche Freude, die Antony ausdrücken kann, sind weiterhin unerreicht.
Und vielleicht sogar mehr als jemals zuvor, muss der Zugang zu "The Crying Light" über seine Stimme gelingen. Auch wenn Songs wie das herzerweichende "One Dove" und das fröhlich-beseelte "Kiss My Name" an frühere Berührungspunkte erinnern, die Melodien und Arrangements seines Piano-Kammerpops sind insgesamt deutlich verspielter geworden. Die Songstrukturen von "Epilepsy Is Dancing" und "Daylight In The Sun" nähern sich schon fast freien Jazz-Interpretationen an. Aber auch die zur Schau gestellte, kompositorische Cleverness mancher Stücke ändert nichts daran: "The Crying Light" ist universell gültiger Gefühlspop. Erfüllt alle Erwartungen. Und ist erneut überwältigend.