Nur auf manchen Fotos trägt Ingrid Michaelson ihre Brille. Es mag zunächst ein wenig oberflächlich klingen, eine Künstlerin nach ihrem Aussehen oder sogar nur nach einem Accessoire zu beurteilen, aber im Falle der jungen US-Songwriterin macht es durchaus Sinn. Denn mit Brille wirkt Michaelson schlichtweg charmant und versprüht einen gewissen "Bibliothekarinnen-Chic", wie sie es selbst einst in einem Interview nannte. Und ohne die Sehhilfe fehlt der 29-Jährigen einfach ein Markenzeichen, ja, ein Hingucker. Und sie ähnelt dann auch ein wenig den Heerscharen anderer junger Songwriterinnen. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit "Everybody", das im Vergleich zu ihrem tollen Debüt etwas abfällt. ~ Stefan Weber (teleschau) aufklappen »
Natürlich kann Michaelson das Bild von der aufstrebenden jungen Songwriterin nicht auf Dauer am Leben erhalten. Zudem lebte ihr Debüt "Girls And Boys", das in Deutschland mit einiger Verspätung erst Ende 2008 erschien, auch davon, dass Michaelson dort noch ungebrochen ihren mädchenhaften Charme spielen lassen konnte. Und auch die zauberhafte Erfolgsgeschichte - von der Do-It-Yourself-Songwriterin zum Myspace-Phänomen bis hin zum absoluten "Grey's Anatomy"-Soundtrackliebling ist natürlich auch nur ein einziges Mal erzählbar.
Nichtsdestotrotz: Ein bisschen vermisst man auf "Everybody" einfach den Charme des Debüts. Michaelson schreibt immer noch feine und kluge Liebeslieder, dröselt Beziehungskisten in ohrwurmigen Songs zwischen Folk und Pop auf, spielt wunderbar Piano und Ukulele. Und wenn sie jene ohne großes Brimborium präsentiert wie etwa bei "Are We There Yet" (nur Akustikgitarre und einige verhaltene Streicher) oder "Sort Of" (ein schlichter Piano-Popsong), dann überzeugt die Songwriterin immer noch voll und ganz. An anderer Stelle wirkt "Everybody" aber ein wenig so produziert und mit Band eingespielt, als ob Michaelson schon von vornherein den Einsatz bei "Grey's Anatomy" und im Formatradio im Blick hätte. Und nicht umgekehrt, wie es bei ihrem Debüt noch der Fall war.
Und so wirkt "Everybody" etwas zu angepasst, verliert Michaelsons Musik an Eigenständigkeit. Was bei unzähligen Mitbewerberinnen wie A Fine Frenzy, Yael Naim oder Maria Mena womöglich zukünftig leichter zu Verwechslungen führen könnte. Egal ob mit oder ohne Brille.
Ingrid Michaelson auf Deutschland-Tournee
16.11., München, Ampere
17.11., Köln, Gloria
18.11., Berlin, Columbia Club
19.11., Hamburg, Grünspan