Klar: Allein die bloße Erwähnung ihres Bandnamens reicht immer noch aus. Und auch jeglicher Nachrichtenfetzen, der von den Zwillingen Bill und Tom Kaulitz überliefert wird, versetzt die Fans weiterhin in Ekstase. Aber man wird das Gefühl nicht los, dass das Kreischpotenzial von Tokio Hotel, der Wirbel, der um die Magdeburger seit ihrem 2005er-Debüt "Schrei" herrschte, doch leicht nachgelassen hat. Zumindest in Deutschland. Denn im Rest der Welt stehen Tokio Hotel - nach überraschenden Achtungserfolgen - sicher noch am Anfang ihrer auch anderswo schon viel umjubelten Karriere. Angesichts dieser Tatsachen reagiert das Quartett mit "Humanoid" genau richtig: Tokio Hotel scheren sich nicht um nationale Fan-Befindlichkeiten, sondern versuchen, sich als internationale Rockband zu profilieren. ~ Stefan Weber (teleschau) aufklappen »
Deutliche erste Anzeichen einer veränderten Ausgangslage für Tokio Hotel gibt es en masse: So erscheint das dritte Album der Band in zwei Versionen - auf Deutsch und eben auch zeitgleich auf Englisch. Und dass einige Fans der Band die internationale Ausrichtung nicht verzeihen wollen, vielleicht aber auch einfach dem Kreischalter entwachsen sind, scheint ein Blick auf die Charts zu bestätigen: Die Vorabsingle "Automatisch" schaffte es "nur" auf Platz fünf. Dabei ist der Song - gerade in der englischen Version - eine konkurrenzfähige Emorockpop-Hymne, die sich vor US-Genregrößen wie My Chemical Romance oder Fall Out Boy nicht verstecken muss.
Um im internationalen Vergleich zu bestehen, fahren Tokio Hotel natürlich bei der Produktion auch wieder dick auf. "Hey Du" schielt deutlich Stadionrock der Marke Linkin Park, auch der Titeltrack spielt sich zeitweise mit düsteren Industrial-Gitarrenriffs auf. Und Bill Kaulitz singt und schreit einmal mehr, als müsste er sämtliche schmerzhafte Emotionen deutscher Teenies schultern. Definitiv spannender geraten aber sind die Stücke, in denen Tokio Hotel diesen - inzwischen leicht ausgetretenen Weg - verlassen und sich zügeln. "Lass uns laufen" mit wunderbarem Piano und großem Chorus ist eine unpeinliche Hymne, in der Ballade "Zoom" darf das Tasteninstrument sogar voll und ganz die Hauptrolle spielen. Hervorragend steht der Band auch die Anlehnung an die guten Seiten der 80er-Jahre: "Hunde" etwa kommt mit kleinem "Blue Monday"-Zitat daher und kann fast schon mit den Wave-Pop-Hits der britischen Legenden New Order mithalten.
"Mithalten" ist das Stichwort. Mit "Humanoid" können Tokio Hotel definitiv international bestehen. Insofern auch nicht schlimm, wenn deutsche Fans in Zukunft bei der Erwähnung ihres Namens nicht mehr komplett ausflippen. Denn der Grundstein für eine Karriere jenseits des Teenie-Phänomens ist auf jeden Fall hiermit gelegt.