Eine bezeichnende Episode: Vor Kurzem spielte Tom Jones ein Spontankonzert auf dem "Latitude"-Festival - am Vorabend, vor dessen offizieller Eröffnung. Die Besucher waren irritiert. Denn obwohl von vielen erwartet und während des Auftritts auch lautstark eingefordert: Der "Tiger" verzichtete darauf, mit Hits wie "Sex Bomb" oder "It's Not Unusual" ausgelassene Party-Stimmung zu verbreiten. Und stellte stattdessen ausschließlich die Songs seines neuen, intimen Gospel- und Blues-Albums "Praise And Blame" vor. Nach dem sich die erste Verwirrung gelegt hatte, gab's jedoch mehr als wohlwollenden Applaus für den 70-jährigen Waliser. Mit Recht. ~ Stefan Weber (teleschau) aufklappen »
Schon auf seinem letzten Album "24 Hours" deutete sich ein musikalischer Sinneswandel an. In klassische 60er-Jahre-Arrangements gewandet, standen Jones' die teilweise von ihm mitkomponierten Soul- und Funk-Songs richtig gut zu Gesicht. Bemerkenswert waren aber damals schon musikalischen Falten und Furchen: ein gospelartiges Springsteen-Cover ("The Hitter"), das von den Niederschlägen des Lebens berichtete, der Titelsong ein düsterer Trauermarsch, in dem Jones über den Tod und die Zeit, die ihm noch bleibt, räsonierte. Auf "Praise And Blame" zeigen sich nun die Anzeichen des Alters noch deutlicher - und das nicht nur, weil sich der Sänger nicht mehr die Haare färbt.
Auf diese Weise großväterlich grau geworden, liegt der Vergleich - einmal mehr - nahe: Tom Jones versucht Ähnliches wie einst Johnny Cash mit seinen "American Recordings". Mit dem Traditional "Ain't No Grave" interpretiert der "Tiger" sogar den Titelsong des posthum veröffentlichten letzten Teils der Albumreihe. Gemeinsam mit Produzent Ethan Johns (Kings Of Leon, Ryan Adams, Rufus Wainwright) wagt sich er auch sonst an urwüchsige Interpretationen von - im weitesten Sinne - spirituell-traditionellem Songmaterial. Nicht ohne zu beweisen, dass er, der "Tiger" stimmlich noch voller Kraft und Lebensfreude steckt.
Denn auch wenn Jones den Songreigen klagend mit dem Chain-Gang-artigen Blues "What Good Am I?" (Bob Dylan) beginnt, beim extrem rohen "Burning Hell" (John Lee Hooker) etwa röhrt Jones dann wie ein angezählter, wütender Boxer. Um dann mit der Lässigkeit des Las-Vegas-Entertainers den Gospel "Strange Things" (Sister Rosetta Tharpe) in einen Piano-Boogie-Rock zu verwandeln. Und schließlich unaufgeregt, mit leicht gepresster Stimme das bekannte Spiritual "Nobody's Fault But Mine" zu interpretieren.
Die beseelte Brüchigkeit in der Stimme, die Ahnung der Auswegslosigkeit angesichts des nahenden Endes, die Cashs Alben einst auszeichnete, entwickelt Jones zwar (noch) nicht. Aber der "Tiger" hat erkannt, dass er wohl nur noch für Großmütter wirklich als "Sex Bomb" durchgeht. Bei "Praise And Blame" hingegen darf auch das jugendlichere (Festival-)Publikum wieder Beifall spenden.