Der Jazztrompeter, Komponist und Bandleader Wynton Marsalis (47) hat sein Quintett diesmal vor eine kreative und spannende Aufgabe gestellt: Wie vertont man das Thema Frau und Mann - "He And She" - als Jazzmusiker? ~ Kati Hofacker (teleschau) aufklappen »
Marsalis hat die Idee gekonnt verarbeitet: Mit spannender, extrem vielseitiger Jazzmusik und selbst verfassten Gedichten, die er zwischen den Tracks liest. Dieses Marsalis-Album ist ein Stück brillanter Gegenwartskultur. Er selbst sagt zu seiner ungewöhnlichen Affinität zum gesprochenen Wort: "Gedichte laut zu lesen oder Blues in meinem Haus zu singen - ich bin mit all dem vertraut. Ich liebe zum Beispiel die Gedichte von William Butler Yeats. Ich gehe nun schon seit dreißig Jahren auf Tournee und habe immer irgendwelche Gedichtbände dabei, aus denen ich den anderen manchmal um ein, zwei Uhr morgens vorlese, wenn sie schon müde sind. Schon als Junge habe ich andauernd geredet. Reden fällt mir ganz leicht, spielen nicht so sehr."
Das ist natürlich blankes Understatement. Der Ausnahmetrompeter, Sohn von Ellis Marsalis, war bereits mit 19 Mitglied der Art Blakey's Jazz Messengers, ist Träger des Pulitzerpreises für Musik und spielte erst neulich für Präsident Obama im Weißen Haus. Er stellt soeben seine - sage und schreibe - 52. Platte vor, "He And She", und die ist so prallvoller Ideen, so bunt gemischt und überschäumend, so mit mitreißender Spielfreude und raffinierter Wendungen gefüllt, mit Überlagerungen und vertrackten Hakenschlägen, dass es Freude macht, sich durchzuhören. Der vorrangige Beat ist dabei der Dreierrhythmus, die zugrunde liegende Idee der Blues - zumindest thematisch. Den Dreierrhythmus sieht Marsalis als natürliches Äquivalent zum Thema Mann und Frau. Sowohl wegen der Walzerassoziation als auch wegen der Bedeutung (Liebe = drei Dinge: Du, ich und Du und ich).
Aber auch Neun-Achtel-Beats wie im rasanten, hochkomplexen "Razor Rim" mit seiner komplizierten Struktur spielt er an. Dieses Lied hat Marsalis über und für die Frauen geschrieben. Und man kann Marsalis nur tausendfach danken, dass keine Schnulze daraus geworden ist. "First Kiss" macht eben jenes Thema mit dissonanten, tollpatschigen Spielereien fürs Kopfkino sichtbar. "School Boy" hingegen versetzt den Hörer zurück in die Zwanziger, auf dem Latin-angehauchten "First Time" glänzen Wynton und Saxofonist Walter Blanding in einem fabelhaften Wettstreit und "A Train, A Banjo And A Chicken Wing" überrascht mit verrückten Rhythmuswendungen zwischen Blues und Sechser-Beat. "Ich habe kein Interesse daran, nur einen Jazzstil zu spielen", so Marsalis. "Ich bin interessiert daran, Jazz und jeden Stil zu spielen, zu adaptieren oder zu kombinieren, der meine Vorstellung davon, wie ich etwas fühle und höre, ausdrückt."
So bietet Marsalis auch lyrische Stücke, das wunderschöne "Zero", "First Crush" mit seiner filigranen Struktur, den verspielten Improvisationen und den kinematografischen Melodien und die zauberhaften, fast romantischen Tracks "The Sun And the Moon" und "First Slow Dance". Marsalis und seine recht jungen Mitstreiter Walter Blanding (Sax), Dan Nimmer (Klavier), Carlos Henriquez (Bass), Ali Jackson (Drums) bieten ganze eineinviertel Stunden fantastische Musik und rollende, shuffelnde Gedichte mit viel, viel Blues im Blut.