Als "Classical" bezeichnet iTunes Brad Mehldaus neues Doppelalbum "Highway Rider". Spinnt der Computer? Die Plattenfirma? Nichts von alledem! Brad Mehldau, an sich versierter Improvisationsmeister am Jazzpiano, komponiert seit Längerem große Orchesterwerke und wagt hier tatsächlich einen verrückten Genreübergriff. ~ Kati Hofacker (teleschau) aufklappen »
"The Brady Bunch Variations" und "Love Songs" hießen zwei der groß angelegten Orchesterwerke Mehldaus, die auch auf heiligen Bühnen wie der der Carnegie Hall mit vollem Orchesterornat aufgeführt wurden. Dass ausgerechnet ein fulminanter Jazz-Improvisateur wie Mehldau daran Geschmack findet, Noten aufzuschreiben, spricht für seine Vielseitigkeit. Dass Mehldau auf "Highway" Rider" eben diese Vielseitigkeit nicht nur auf das Album, sondern teilweise sogar in einzelne Stücke hinein gepackt hat, ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber spannend. Nur: Wie aber muss man sich das vorstellen?
Anfangs lullt Mehldau den Hörer sanft ein, erfreut das Ohr mit netten Klavier-Ostinati Marke Aufzugsmusik für Avantgardisten auf "John Boy". Auch die filmmusikreifen Fast-Solo-Stücke "Don't Be Sad" oder "At The Tollbooth" bemühen viele schöne, genüsslich ausgekostete Melodien im angenehmen Downbeat. "Highway Rider" und "The Falcon Will Fly Again" ziehen im Tempo dann an, bieten rasanteren Modern Jazz, nicht ohne die vorher angelegten Melodiebögen allzu weit zu verlassen. Immer mehr, immer stärker wird das Ensemble Mehldaus involviert: Jeff Ballard an den Percussions und Drums, Larry Grenadier am Bass und Matt Chamberlain an den Drums, dazu aber kommt nun noch Joshua Redman am Sopran- und Tenorsax und ein komplettes Kammerorchester, dirigiert von Dan Coleman.
Dieses tritt dann - Tusch! - erstmals in der kammermusikalischen Suite "Now You Must Climb Alone" auf und übernimmt die Stücke nach und nach komplett. Breite, getragene, meist sehr moderne Streichersounds, die Mehldaus Vorbilder Tschaikowski, Alvicar oder Brahms weniger durchhören lassen als Strawinski, Schönberg und Alban Berg. Am Ende von CD eins, nach einer wahren Kakofonie des Kammerorchesters von sich im Halbtonbereich aneinanderreibenden Streichern, mündet Mehldau am Ende von "Walking The Peak" wieder in ein harmonisches Pianosolo. Auf CD zwei arbeiten die Elemente Jazzquartett und Kammerorchester noch öfter zusammen, vermengen, verquicken sich und bieten einen Mix aus gelungener Hollywood-Musical-Leichtigkeit nach Art der 40er-Jahre, Prokofjew mit Jazzklavier, hyperagilen freien Sounds ("Into The City", "Come With Me"), radiotauglichem Sonnenschein-Jazz ("Sky Turning Grey", "Old West") und sinnlich orchestriertem Modern-Jazz. Gibt es das? Jetzt schon! Mehldau ist spannend, mutig, abwechslungsreich, neu und doch wohlklingend!