Party auf dem Gipfel der Stümperhaftigkeit
Deichkind finden, dass "Arbeit Nervt" - Kapitalismuskritik trifft Komasaufen
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Party auf dem Gipfel der Stümperhaftigkeit
Deichkind finden, dass "Arbeit Nervt" - Kapitalismuskritik trifft Komasaufen
17.10.2008 Liveshow ist der falsche Ausdruck. Eigentlich feiern Deichkind Orgien. Bass pumpt aus den Boxen, Jägermeister aus der bizarren, Alkohol speienden Zitze und das Publikum pogt sich in Ekstase, den Slogans der tanzenden Müllsäcke auf der Bühne hörig. 5.000 Dosen Bier ließ die Band für die Produktion des "Arbeit Nervt"-Videos springen. Zum Interview kommen die Hamburger Jungs allerdings in handelsüblichen Baumwoll-Klamotten, servieren Champagner, Toblerone und Dinkel-Cracker. "Wir ordnen uns der Idee Deichkind unter", sagt DJ Phono. Und the message is Feierei - frei nach Sven Väth - mit einer Portion Sozialkritik. "Arbeit Nervt" ist ein neonbuntes Techno-Politikum - Deichkind hatten die Wahl: "Unter Mülltüten schlafen oder Mülltüten tragen."
Letzteres erwies sich trotz einiger Startschwierigkeiten, wie dem vernichtenden 14. Platz bei Stefan Raabs "Bundesvision Song Contest" 2005, als modischer Volltreffer und darüber hinaus als lukrativ. Mittlerweile zählen die Deichkinder zu den angesagtesten Acts der Republik, ein legendärer Auftritt jagte in den vergangenen dreieinhalb Jahren den nächsten. Als "Aufstand im Schlaraffenland" erschien, rümpften die Massen noch skeptisch die Nasen, nach dem neuen Longplayer "Arbeit Nervt" lecken sich Feuilletonisten und Realschüler gleichermaßen die Finger. Das Rezept des Erfolgs?
Philipp, Sebi und Phono haben es zum Interview mitgebracht - ein mit Devotionalien überhäufter Gabentisch. Arztromane neben Mundsprays, Casio-Keyboards auf Federboas, Stanislaw Lem unter Max Frisch - sieht aus wie Kindheitserinnerungen, wie Flohmarktkrempel und ein bisschen wie ein Kunstwerk von Joseph Beuys. Die Parallele zur Musik ist leicht gezogen und Deichkinds Gleichung geht voll auf: Humanistische Bildung plus crossmediale Überstimulierung plus Fluchtpunkt Nonsens ist gleich Bass-Drums im Viervierteltakt und schonungslose Satire, inszeniert wie ein Schauspiel mit bewusst kitschiger Fassade.
Obwohl Arbeit ja eigentlich nervt, sind die Drei höchst entspannt, plaudern aus dem Nähkästchen, vermitteln nötiges Grundwissen, um den Deichkind-Kosmos zu verstehen. Das Band-Ensemble umfasst mittlerweile fast zehn Leute, die getrennt zu Gigs anreisen. "In einem Auto sitzen Leute, die sich mit Hochkultur beschäftigen, Bücher lesen, Vegetarier sind - die Dinkels. Und es gibt das Kapitalo-Auto, damit fahren die Assis, da läuft heftige Rapmusik, da wird über Sex geredet und während der Fahrt onaniert", sagt Philipp. Und DJ Phono ergänzt: "Nur so funktioniert Deichkind. Wir sind keine Band wie AC/DC, die etwas Bestimmtes verkörpert, wir sind ganz unterschiedliche Typen, die auch unterschiedlich über Dinge denken." Die Ex-Mitglieder Malte und Buddy sahen das wohl anders und verließen die Truppe kurz nach "Aufstand im Schlaraffenland". Mittlerweile trat Ferris MC an ihren Platz, auch um die Kapitalo-Dinkel-Balance zu halten, wie Philipp erklärt.
Am Interview nimmt der Neuzugang allerdings nur mit aufgenommenen Statements teil, die Kapitalo-Kollege Sebi per Tastendruck abspielt. Unter anderem lässt Ferris verlauten: "Arbeit nervt. Deswegen bin ich bei Deichkind. Um viel Freizeit zu genießen, damit ich mit meinen beiden Katzen zu Hause schmusen kann. Ich mag Katzen lieber als Hunde." Offenheit, die überrascht. Wer hätte das noch vor ein paar Jahren von Skandalrapper Ferris gedacht?
Deichkind stehen eben für Verständigung (bei 120 Dezibel) und für Offenheit (von Dosenbier). Aber mal im Ernst: "Während HipHop auf Wettkampf aufgebaut ist und sich an irgendwelche Güter fesselt, steht Techno eher für das Untergehen in der Masse, das Verschmelzen mit der Musik", macht Sebi klar - und liefert einen wesentlichen Grund für die Abkehr Deichkinds vom HipHop. Andererseits gab es kaum Alternativen, wie Phono hinzufügt: "Handwerklich sind HipHop und Techno nah beieinander - in diesem Gefilde können wir uns bewegen. Viel weiter allerdings nicht. Wir sind auf eine Art Stümper und nicht immer in der Lage alles umzusetzen, was wir gerne umsetzen würden."
"Der Gipfel der Stümperhaftigkeit ist die Zitze", ergänzt Philipp. "Das geben wir zu. Unperfekt sein ist sympathisch." Doch abseits der unbändigen Feierwut, die überall dort ausbricht, wo Deichkind ihre Zelte aufschlagen, soll auch Inhalt vermittelt werden, wie DJ Phono erklärt: "'Remmi Demmi' war die Beschreibung einer pubertären Phase. 'Arbeit Nervt' hat mehr Tragweite, weil das Thema Arbeit in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat. Unsere Gesellschaft verlangt ja, Bildung zu erlangen, einen Beruf zu ergreifen, um Geld zu verdienen, damit man sich Statussymbole leisten kann. Bewusst einfach mal nicht funktionieren zu wollen ist ein Thema, das bei Deichkind auch an anderer Stelle zu finden war und ist."
Sozialkritik im Partyoutfit. Wie viel Substanz die Gesellschaftssatire der Deichkinder hat, ist fraglich - geil ist sie allemal. Und um ehrlich zu sein, schadet ein intellektueller Überbau einer durchfeierten Nacht ja nicht. Zumal der Rest des Albums eher dadaistisch rüberkommt. Typischer Deichkind-Humor, Texte zwischen Technikfrust und Säufersolidarität. Und so ist "Arbeit Nervt" sowohl Punk für die Elite als auch exzessiver Freitagnacht-Eskapismus. In jedem Fall verschwindet "das Individuum hinter der Maske", sagt Phono und meint damit auch die Deichkinder selbst. Dabei geht es den Fans nicht anders: Auch ein Dinkel will mal Kapitalo sein.
"Priester, Putzfrauen, Pizzabäcker, Proktologen / Wollen lieber popeln, pöbeln, prügeln, pogen / Lehrer, Kellner, Gärtner, Bänker, Broker, Richter / Sehnen sich nach Druckbetankung durch den Trichter", so fasst die Single 'Arbeit Nervt' genau dieses Gefühl zusammen. Auf den Punkt bringt es allerdings Ferris per erneutem Tastendruck: "Die Zitze liebt auch dich!" ~ Gregor Jossé (teleschau)
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