Jan Delay

Fremdscham lauert überall


Warum Jan Delay sich von seinem Kindheitsidol verraten fühlt und sich über iTunes ärgert

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Fremdscham lauert überall

Warum Jan Delay sich von seinem Kindheitsidol verraten fühlt und sich über iTunes ärgert

14.08.2009 Ein langer Tag liegt hinter Jan Delay: Neun Stunden sitzt er nun schon im Bayerischen Hof und gibt ein Interview nach dem anderen, um sein neues Solo-Album "Wir Kinder vom Bahnhof Soul" zu bewerben. Die Anstrengung verbirgt der 33-Jährige meisterhaft - nach knapp 15 Jahren im Musikbusiness ist der Hamburger kein "Beginner" mehr, sondern ein Profi. Trotzdem scheint er deutlich erleichtert, als er erfährt, dass dies für heute sein letztes Interview ist.

Welche Frage darf heute nicht mehr gestellt werden?

Jan Delay - J

Jan Delay: Jetzt kann ich es ja verraten: Vor den Interviews habe ich ein Sparschwein besorgt, das Wikipedia-Schwein. Dank meines Wikipedia-Eintrags werde ich nämlich seit Jahren von einfallslosen Journalisten immer wieder zu meinen hundert Pseudonymen befragt. Deshalb wollte ich jedem, der davon anfängt, stumm das Schwein und einen Zettel reichen, auf dem steht: "Journalisten, die bei Wikipedia googeln sind wie MCs mit Reimlexikon. Ein Euro für die 'Rote Hilfe'".

Wieviel Geld kam bisher zusammen?

Delay: Das Schwein ist noch immer leer.

Bist Du darüber enttäuscht oder erleichtert?

Jan Delay - J

Delay: Ich bin positiv überrascht.

Unkreative Journalisten bleiben auf "Wir Kinder vom Bahnhof Soul" unerwähnt. Dabei äußerst Du Dich gerade in "Showgeschäft" ausführlich über die nervigen Seiten Deines Berufs ...

Delay: Mir wären mindestens noch zehn weitere Punkte eingefallen, aber ein Lied hat eben nur drei Strophen.

Welche Risiken und Nebenwirkungen des Showgeschäfts sind denn noch erwähnenswert?

Delay: Vor allem, dass das harte, harte Arbeit ist. Also Augen auf bei der Berufswahl: Interviews, Videodrehs, Promo, Feierverbot, weil am nächsten Tag Konzert ist. Und das Ganze vier Monate am Stück. Zuvor sitzt man eineinhalb Monate im Studio.

Und trotzdem wirkt der rote Teppich verlockend.

Jan Delay - J

Delay: Alle Leute, die auf roten Teppichen längswandern, tun das, weil sie sich zuvor den Arsch aufgerissen haben. Weil sie die Besten sind. Sie machen das nicht, um Geld zu verdienen, sondern weil eine innere Kraft sie antreibt. Wer dieses Gefühl nicht kennt und nicht mit Rückschlägen umgehen kann, soll die Finger davon lassen.

Warum wird man heute lieber Popstar als Krankenschwester?

Delay: Weil es so abgefeiert wird. Das ist die Frage nach der Henne und dem Ei: Haben erst die Leute nach mehr Glitzer, Glam und Tratsch gefragt oder haben die Medien angefangen, Prominente auf so ein hohes Podest zu stellen? Irgendwann bleibt einem gar nichts mehr anderes übrig, als sich bei einer Castingshow zu bewerben.

Welche Castingshow findest Du am Schlimmsten?

Jan Delay - S

Delay: Ich schaue kaum eine. Aber was mich wirklich schockte, war die mit Flavor Flav.

"Flavor of Love" bei MTV?

Delay: Genau. Flavor Flav und Public Enemy waren meine Kindheitsidole! Ihnen ging es um Kämpfe, um Ideale, Fight The Power. Und dann kommt der Typ mit so nem Scheiß! Das ist Satire. Das ist Fremdscham.

Sind Leute, die berühmt bleiben wollen, peinlicher, als Leute die berühmt werden wollen?

Delay: Natürlich, auf jeden Fall. DJ Dynamite brachte das Phänomen sehr treffend auf den Punkt: Sobald Menschen anfangen, ihren Erfolg zu verwalten, ist das der Anfang vom Ende. Im Fall von Public Enemy dachte ich immer, sie wollten nicht selbst berühmt sein, sondern nur ihre Meinung berühmt machen. Das hat sich wohl geändert.

War das die Inspiration zum Song "Überdosis Fremdscham"?

Delay: Nein, die lauerte überall: Auf der Straße, in der Disko, im Fernsehen.

Schämst Du Dich oft fremd?

Delay: Sehr oft. Es müsste eine Skala geben, in der Fremdscham angegeben wird. Ich weiß nicht, in welcher Einheit man misst. Sagen wir, in Axel Schulz ...

... auf einer Skala von null bis zehn, vermutlich?

Delay: Genau. Nehmen wir einen peinlichen Moment, zum Beispiel, wenn ich beim Zappen im Halbschlaf bei einer dieser Gerichtssendungen hängen bleibe. Bei denen die Darsteller dauernd versuchen, noch Emotionen in ihre Rollen und Dialoge hineinzustopfen. Ich sehe dann immer einen Regisseur vor mir, der laut ruft: "Stop, stop, nochmal bitte. Das war noch nicht schlecht genug."

Wie viele Axel Schulz gibt es dafür?

Delay: Zwei oder drei, weil dort der persönliche Bezug fehlt. Aber kommen wir zu einer Neuner- oder Zehner-Skala: Jemand, den man gut kennt, schätzt und mag, setzt sich ganz fies in ein krasses Fettnäpfchen. Und man selbst ist live dabei.

Der persönliche Bezug ist also entscheidend?

Delay: Hmm, auch nicht unbedingt. Ein schönes Beispiel ist "Kalkofes Mattscheibe". In manchen Fernsehausschnitten müsste Kalkofe gar nicht auftreten, weil die schon die reinste Satire sind. Aber wenn man sich dann überlegt, dass diese Leute das, was sie sagen, tatsächlich ernst meinen, dann schlägt die Skala heftig aus. Denn die Schauspieler aus den Gerichtsshows, die bei zwei oder drei AS herumdümpeln, die checken das ja nicht. Aber so eine Kader Loth stellt sich ja bewusst dahin und sagt, was sie sagt. Man fasst sich nur noch an den Kopf und denkt: "Alter ..."

Kader Loth redet derzeit über Politik - Du lässt diese im Superwahljahr weitestgehend außen vor.

Delay: Wenn ich einem gewissen Thema schon einen Song gewidmet habe, dann ist das erledigt. Ich will mich nicht wiederholen. Zumal "Wir Kinder vom Bahnhof Soul" auch nicht die richtige Plattform für Politik ist.

Wieso?

Delay: Das Problem besteht darin, dass ich a) etwas ansprechen und das b) auf eine entertainende Art und Weise tun will. Ich rede schon noch über Dinge, die mir wichtig sind, aber nur dann, wenn sie über diese wunderschöne Musik geträllert werden können. Die Schwere eines Textes darf sich nicht über die Leichtigkeit eines Instrumentals legen.

Das war nicht immer Deine Einstellung.

Delay: Beim Rap ist das auch etwas anderes: Jedes noch so schwierige Thema kann in einen geilen Reim verpackt werden. Aber wenn ein Lied mit einem funky Beat losgeht und dann plötzlich eine Stimme "Das Bruttosozialprodukt muss angehoben werden" oder "Heuschrecken machen den Markt kaputt" singt, kann man die Musik nicht mehr genießen.

Dir selbst scheinen eher andere die Freude an Musik zu nehmen: Soundverminderung, Störgeräusche, Kopierschutz - kaum ein Künstler schützt seine Promo-CDs so umfangreich wie Du.

Delay: Das ist auch notwendig, das mit der Raubkopiererei wird immer schlimmer. Ihr realisiert das alle gar nicht. Single-CDs sind schon fast ausgestorben, Langspiel-CDs blüht das gleiche Schicksal: Dieser Datenträger ist überflüssig, es wird alles heruntergeladen. Dadurch, dass das Wertebewusstsein für so ein Stück Musik aufgehoben wurde, sind Cover und Artwork auch nicht mehr so wichtig. Wer sich dafür interessiert, kauft sich gleich die Vinyl. Das ist noch richtige Kunst, die kann man sich ins Regal stellen, wie einen Wein oder einen Turnschuh.

Ein Trend, der durchaus wiederkehrt.

Delay: Ja, aber das wird ein gewisses Level nicht übersteigen. Es läuft auf einen unhaptischen Tonträger heraus, eine Datei. Und die Plattenlabels müssen nun sehen, wie sie damit klarkommen.

In der Regel fordern sie illusorische Schadensersatzsummen von Raubkopierern. Ist das der richtige Lösungsansatz?

Delay: Nein, definitiv nicht.

Wie lautet dein Vorschlag?

Delay: Als Labelboss hätte ich mich beispielsweise vor acht oder neun Jahren dafür eingesetzt, dass CD-Rohlinge und -Brenner krass besteuert werden, so wie Zigaretten und Alkohol. Und all das Geld, das man damit eingenommen hätte, wäre unter Künstlern aufgeteilt worden. Aber das haben die Plattenlabels verpasst, und daran werden sie sterben. Erst die kleinen, dann die Majors. Das bedeutet auch, dass immer weniger Geld für neue Produktionen zur Verfügung steht. Deshalb muss eine Bewusstseinsveränderung her, sonst kommt bald nur noch Schrott auf den Markt.

Aber allmählich setzen sich auch legale Downloads durch.

Delay: Deshalb stehen die Plattenfirmen alle speichelleckend bei iTunes Schlange: Weil die die einzige Möglichkeit entdeckt haben, mit legalen Downloads Geld zu machen. Das Problem ist nur, dass iTunes an jedem Song, der für einen Euro heruntergeladen wird, 50 Cent verdient. Das heißt, in der Geschichte der Popmusik haben Label und Künstler noch nie so wenig mit einem verkauften Lied eingenommen.

Warum spielen die Plattenlabels dabei mit?

Delay: Weil sie es sich nicht mit iTunes verscherzen wollen. Weil sie selbst nicht diese Idee hatten. Weil sie sich 20 Jahre lang in ihrem Geld gesuhlt haben und nie auf den Gedanken kamen, in die Zukunft zu blicken und in Forschung zu investieren.

Radiohead sind dazu übergegangen, ihre Musik selbst online zu vertreiben.

Delay: Ich hatte Universal schon mal den Vorschlag unterbreitet, auf meiner Homepage einen eigenen Downloadbereich mit allen Songs, die ich je veröffentlicht habe, einzurichten. Das machen die nicht, weil die Downloadzahlen von iTunes in die Charts mit einfließen. Das verstehe ich auch irgendwie. Aber sobald mein Vertrag ausläuft, kann ich mir schon vorstellen, meine Musik so an den Mann zu bringen.

Wenn wir gerade in der Zukunft schwelgen: Wirst Du dem Funk weiterhin treu bleiben?

Delay: Nein, "Mercedes Dance" und "Wir Kinder vom Bahnhof Soul" haben mir viel Spaß bereitet, aber irgendwann reicht es auch.

Was kommt als Nächstes?

Delay: Wenn ich jetzt sofort eine Platte aufnehmen würde, wäre diese ganz minimalistisch. Ich würde versuchen, mit geringsten Mitteln größtmögliche Energie zu erzeugen. Textlich wäre das wahrscheinlich immer nur ein Satz, den ich die ganze Zeit schreien würde.

Also irgendwas wie "Kauft wieder CDs!" und "Fragt mich nicht nach meinen Pseudonymen!"?

Delay: Das wäre ein Anfang.

Tournedaten zu "Jan Delay auf Deutschland-Tournee":

09.10., Bielefeld, Ringlokschuppen

10.10., Bremen, Pier 2

11.10., Köln, Palladium

12.10., Frankfurt, Jahrhunderthalle

17.10., Würzburg, s.Oliver Arena

19.10., Freiburg, Rothaus Arena

20.10., Balingen, Volksbank Messe

22.10., Saarbrücken / St. Ingbert, Mech. Werkstatt

24.10., Dortmund, Westfalenhalle 2

26.10., Berlin, Columbiahalle

27.10., Hannover, AWD Halle

29.10., Chemnitz, Stadthalle

30.10., Kassel, Eissporthalle

31.10., Rostock, Stadthalle

1.11., Flensburg, Deutsches Haus ~ Annekatrin Liebisch (teleschau)


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