Ein neues Werk von NIGHTWISH wird naturgemäß mit den bisherigen verglichen. Um es vorab zu sagen: NIGHTWISH ist nicht mehr NIGHTWISH. Das Ausscheiden von Tarja stellt einen tiefen Einschnitt in die Bandgeschichte dar. Dazu darf angemerkt werden, dass die Art, wie dies geschah, alles andere als gutzuheißen ist. Nach alldem, was darüber zu lesen war, ging die Initiative dazu von den männlichen Bandmitgliedern aus, die Tarja schriftlich nach einer erfolgreich absolvierten Tour entließen. Sie sorgten dafür, dass ihre schmutzige Wäsche öffentlich gewaschen wurde. Dies war weder nötig, noch professionell, noch zeugt es von persönlicher Reife. Wenn man sich menschlich nicht versteht, trennt man sich eben - aber man läßt nicht jeden an seiner privaten Einstellung dazu teilhaben. Zudem liegt erfahrungsgemäß die "Schuld" an einer Trennung oft nicht nur auf einer Seite. ~ metal-channel aufklappen »
Nun denn - die Trennung war vollzogen; was sollte nun folgen? Eine Nachfolge-Frontfrau wie Tarja zu finden, schien ein Ding der Unmöglichkeit. Schließlich war sie mit Abstand die absolut beste Sängerin im Metal-Bereich. (In der finnischen Zeitung "Iltalehti" wurde sie Ende 2006 übrigens als beste finnische Sängerin ausgezeichnet.) Ohne sie hätten NIGHTWISH wohl kaum auf ihre beachtliche Erfolgsgeschichte zurückblicken können. Aber auch nicht ohne die genialen Kompositionen von Keyboarder Tuomas Holopainen, der ja nach wie vor dafür veranwortlich zeichnet. Und für das neue Album ließ er sich einiges einfallen. Im Ganzen betrachtet, ist es deutlich abwechslungsreicher als die Vorgängerwerke ausgefallen, reicht aber trotz vieler neuartiger Elemente nicht ganz an die Klasse der Titel aus "Wishmaster" oder "Oceanborn" heran. Einerseits könnten einige Tracks ("The Poet And The Pendulum") oder Passagen als progressiv durchgehen, andererseits wirken Songs wie "Bye Bye Beautiful" eher wie ein aufgepeppter 80er-Hardrock-Sound. Auch vor dem Abdriften ins Pop-hafte ("Amaranth") wurde kein Halt gemacht.
Das bisherige Erfolgsrezept "geniale Komposition + überragende Stimme" ist nunmehr hinfällig. NIGHTWISH sind jetzt mit neuer Sängerin unterwegs. Diese hört auf den Namen Anette Olzon und scheint von ihrer Person her durchaus zur Band zu passen. Sie verfügt nicht über eine klassische Gesangsausbildung und war bisher nicht im Metal-Bereich tätig. Dass die Wahl auf sie fiel, legt nahe, dass NIGHTWISH neue Wege einschlagen wollen - an der bisherigen hohen Messlatte hätte sich ohnehin kaum eine Sängerin messen lassen können. Dennoch - ein Vergleich kann nicht ausbleiben. Schließlich wurde der Name NIGHTWISH beibehalten - eine Umbenennung wäre der korrekte Schritt gewesen, hätte aber kommerziell negativ zu Buche geschlagen. Auch wenn Anette eine sympathische Ausstrahlung hat, die Töne trifft und das neue Material auf ihre Art umzusetzen weiß - kann sich irgendjemand vorstellen, wie sie Songs wie "Stargazers", "The Pharao Sails To Orion", "Fantasmic" oder "The Phantom Of The Opera" vortragen soll? Ihr Gesang ist zweifellos ok, aber es fehlt einfach die Fülle und die Präsenz, die bei früheren NIGHTWISH-Titeln aufhorchen ließ. Tarja war im Grunde nicht austauschbar - Anette ist es aber. Man könnte einwenden, sich das neue Album unvoreingenommen anzuhören. Sinnlos - das geht nicht, weil es immer noch von einer Band namens NIGHTWISH stammt und somit eine gewisse Erwartungshaltung impliziert.
Für viele Fans war die Band nach Erscheinen der Songs "Eva" und "Amaranth" abgeschrieben, wie man in einer Reihe von Foren lesen konnte. Dass gerade "Amaranth" als Single ausgekoppelt wurde, ist aus musikalischer Sicht Schwachsinn, aus kommerzieller Sicht hingegen nachvollziehbar. Daran lässt sich ein weiteres Mal ablesen, was die Verantwortlichen bei den Labels in ihrer unermesslichen Geldgier dem gewöhnlichen CD-Käufer zutrauen... Denn von diesen beiden Vorab-Veröffentlicheungen lässt sich keineswegs auf das Album schließen. Es ist nämlich deutlich besser, als man es von daher erwarten würde.
Ein paar Worte zu den einzelnen Tracks:
01. The Poet And The Pendulum:
Der knapp 14-minütige episch geprägte Opener "The Poet And The Pendulum" startet mit einer sphärischen Intro, um dann in einen recht melodischen Song mit abwechselnd langsamen, Mid-Tempo- und schnelleren Teilen überzugehen. Neben der für "Nighwish" üblichen Instrumentation tauchen auch Bläser- und Violin-Klänge sowie Sprechpassagen auf - Tendenzen ins Progressive liegen auf der Hand. Orchestral, hymnisch und bombastisch sind weitere Attribute - diese kommen überhaupt auf dem ganzen Album nicht zu kurz.
02. Bye Bye Beautiful:
Erinnerungen an den Hardrock der 80er werden wach, wenngleich der Titel natürlich durch die Nightwish-Mühle gezogen wurde. Insbesondere Marcos Gesang trägt dazu bei. Vermehrter Male-Gesang auf dem gesamten Werk zeigt auch, dass man der Frontfrau nicht mehr ganz den Stellenwert wie früher einräumt.
03. Amaranth:
Eine poppig-eingängige Melodieführung wechselt sich mit härterem Gitarrenspiel ab; das Stück bewegt sich zwischen NIGHTWISH-Durchschnitt und US-Teenie-Pop (vorwiegend durch den Refrain bedingt).
04. Cadence Of Her Last Breath:
Das Stück klingt modern, zeitgemäß und ist routiniert in Szene gesetzt. Davon abgesehen, könnte es mit ein paar Abstrichen auch einem "Within-Temptation"-Album entspringen.
05. Master Passion Greed:
Der Track kommt symphonisch-thrashig daher, der Gesang wird ohne Anette bestritten. Eines der härteren Stücke.
06. Eva:
"Eva" war "Nightwishs" erstes musikalisches Lebenszeichen nach Tarjas Ausscheiden, diente aber nur bedingt der Beurteilung dessen, was da kommen sollte. Es ist ein eingängig-melodiöser, einfühlsam vorgetragener Song - dennoch: Parallelen zum Softrock der 80er-Jahre sind schnell ausgemacht; zudem sind kaum Höhepunkte vorhanden.
07. Sahara:
Nach einem typischen Heavy-Intro könnte man unwillkürlich auf Tarjas Einsatz warten - dennoch entwickelt sich der Song gefällig und abwechslungsreich. Passagenweise harmoniert Anettes Stimme perfekt; insbesondere die arabisch anmutenden Anklänge sind durchaus gelungen.
08. Whoever Brings The Night:
Spätestens nach Hören dieses achten Tracks kann man sagen: Ok, das Album als Ganzes kann man durchgehen lassen - man muss sich nunmal von der Erwartung lösen, exakt das geboten zu bekommen, was früher Standard war. Der eindringliche Gesang von Anette kann in "Whoever Brings The Night" jedenfalls überzeugen.
09. For The Heart I Once Had:
Teilweise lieblich-poppiger Gesang wechselt sich mit Songstrukturen ab, die auch hier wieder an "Within Temptation" oder "Him" erinnern.
10. The Islander:
Der Folk-angehauchte Song ist rein akustisch. Violine und Flöte entfalten ihr Flair; Anette singt streckenweise mit Marco im Duett, wobei dieser den größeren Gesangspart inne hat, den er gekonnt einfühlsam meistert.
11. Last Of The Wilds:
Da man nun schon einmal dabei ist, wird das Irish-Folk-Feeling mit "Last Of The Wilds" fortgesetzt, einem reinen Instrumentalstück.
12. 7 Days To The Wolves:
Ein weiterer routinierter NIGHTWISH-Titel, in den sich erneut irisches Gefidel einschleichen konnte.
13. Meadows Of Heaven:
Zwischen langsam und Mid-Tempo angesiedelt, vermag dieser sich im Verlauf steigernde Song nach einer recht langen Einleitung zu fesseln - ein würdiger Abschluß des Albums. Anettes Stimme fügt sich gut in die - wie gewohnt perfekte - Instrumentation ein.
"Dark Passion Play" ist als solches durchaus gefällig, technisch gut eingespielt und bietet eine Reihe hörenswerter Songs - ein gutes Symphonic-Metal-Werk (Opera-Metal ist es jedenfalls nicht mehr, was die endlose Debatte der Genre-Schubladendenker darüber abschließen dürfte). Dem Erbe aus Tarja-Zeiten Rechnung tragend, ist es jedoch keine Empfehlung. Bevor man sich das Teil zulegt, sollte man vielleicht überlegen, seine "Epica"-, "After Forever"-, "Within-Temptation"- oder "Visions Of Atlantis"-Sammlung zu vervollständigen - bei Letzteren kommt nämlich (trotz des unnötigen Male-Gesangs) mehr NIGHTWISH-Feeling auf. Und für diejenigen, die Standardgesang ausgebildeten Opernstimmen vorziehen, stellt das Album wohl eine Bereicherung des CD-Regals dar.
In meine Bewertung (65 %) fließt das fehlende Tarja-Feeling ein, ansonsten wären es 80-90 % geworden. Für 10 Punkte hätte etwas in der Art von "Oceanborn" (mein bevorzugtes Werk dieser Stilrichtung) auf dem Tisch liegen müssen. Und ich mag auch Anettes Gesang, aber NIGHTWISH erfüllen mit "Dark Passion Play" nun mal nicht meine Erwartungen. Ist das Gleiche, wie wenn man in eine Bäckerei geht, um zu erfahren "Ab heute verkaufen wir nur noch Gemüse". Ok, Gemüse ist auch gut, aber dann soll sich die Bäckerei künftig "Gemüseladen" nennen.