"Lebt den Moment!"
Ex-The-Verve-Sänger Richard Ashcroft verbreitet mit neuer Band Optimismus
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"Lebt den Moment!"
Ex-The-Verve-Sänger Richard Ashcroft verbreitet mit neuer Band Optimismus
13.07.2010 Wenn man so will, war es tatsächlich der "bittersüße Abgesang", den ihr größter Hit beschrieb: Eine Tour und ein Album - länger dauerte die Reunion der 90er-Jahre-Britpop-Ikonen The Verve ("Bitter Sweet Symphony") nicht. Zwischenzeitlich schon mit drei Soloalben erfolgreich, stellt Sänger Richard Ashcroft mit RPA & The United Nations Of Sound nun ein neues Projekt vor. Auf dem selbst betitelten Debüt seiner neuen Band mischt er Brit-Pop-Sounds mit Soul-, Funk- und HipHop-Elementen. Im Interview spricht der 38-jährige Vater von zwei Söhnen übers Kuchenbacken, Glück und sein erstes Mobiltelefon.
Herr Ashcroft, Sie haben mal gesagt, wenn ein Song richtig gut ist, dann reißen Sie dazu automatisch die Arme in die Luft. Wie viele Songs auf Ihrem neuen Album sind zum Arme in die Luft reißen?
Richard Ashcroft: Das erste Mal passierte es, als unser Gitarrist Steve Wyreman "Are You Ready" einspielte. Da kamen meine Arme plötzlich hoch. Aber auch bei "This Thing Called Life", bei "America" oder am Ende von "She Brings The Music". Es gibt definitiv ein paar Stücke, bei denen es mir so geht. Ich habe aber auch einen neuen Move: Arme in die Luft und aus Zeigefinger und Daumen einen Kreis formen.
RPA & The United Nations Of Sound heißt ihr neues Projekt - dürfen wir das als eine richtige Band oder als eine neue Inkarnation von Richard Ashcroft verstehen?
Ashcroft: Es ist Richard Ashcroft, es ist mein Album, aber ich hatte das Gefühl, dass die Musiker zu gut sind, um nur im Schatten zu stehen. Ich wollte dieser kollektiven Idee einen Namen geben. Wir kommen offensichtlich aus unterschiedlichen Ländern, wir haben einen Italiener, zwei Engländer und drei Amerikaner, so gesehen passt der Name schon mal.
Hatten Sie die Nase voll vom Britpop?
Ashcroft: Jeder, der lange genug dabei ist, ist irgendwann abgestumpft - egal, ob du aus dem HipHop, dem R'n'B oder dem Rock kommst. Meine Band und ich spürten genau das alle, wir unterhielten uns viel darüber. Ob es nun daran liegt, dass dein Genre musikalisch gegen die Wand fährt oder textlich. Irgendwann braucht man Innovatoren, die neu denken, die etwas Frische bringen.
Diese Rolle spielte für Sie wohl der HipHop-Produzent No ID, mit dem Sie das neue Album aufnahmen. Hat der sich nicht gewundert, was dieser Brit-Popper von ihm will?
Ashcroft: (lacht) Wenn ich meinen Mund beim ersten Song aufgemacht und plötzlich gerappt hätte, dann hätte er sich vielleicht seine Gedanken gemacht. Aber weil ich die Essenz des Rock'n'Roll in den Raum gebracht habe, war es cool. Ich stellte mich vor, meine Kultur, nordenglischen Rock'n'Roll. Machen wir uns nichts vor: Das Einzige, womit die meisten Leute in Amerika mich in Verbindung bringen, ist "Bitter Sweet Symphony" von 1997. Das ist die Realität. Und das ist wohl auch alles, was No ID über mich wusste - bis der Hurricane, der ich bin, ihn getroffen hat und er merkte, dass ich es verdammt ernst meine. Er beschrieb mir das mithilfe eines Kuchens: All diese R'n'B-Sänger, mit denen er sonst arbeitet, kommen zu ihm ins Studio und wollen, dass er ihnen einen Kuchen backt - aber sie haben keine Ahnung, welche Zutaten sie darin haben wollen.
Und Sie hatten einen ganzen Korb voll Zutaten dabei?
Ashcroft: Ja genau! Wenn Sie die Jungs irgendwann mal interviewen, würden die Ihnen wahrscheinlich erzählen, dass ich verrückt bin.
Warum das?
Ashcroft: Weil ich wie besessen war. Schlaf war kein Bestandteil des Aufnahmeprozesses. Irgendwann diagnostizierten die Ärzte in Los Angeles bei mir eine Lungenentzündung, eine Brustkorbinfektion und eine Halsentzündung. Sie hätten sehen sollen, wie dieser eine Typ im Studio danach alle Mikrofone abgewischt hat. So sind sie, die Amerikaner ...
Viele ihrer neuen Texte sind ziemlich positiv geworden, da heißt es sogar mal "I'm happy, I'm free again". Sind Sie heute glücklicher als vor zehn Jahren, zu Zeiten von The Verve?
Ashcroft: Das ist schwer zu sagen. Das Leben ist so komplex, so facettenreich. Ich bin definitiv weniger verwirrt als damals. Aber Positivität und Freude in meine eigene Musik einfließen zu lassen, finde ich immer noch schwieriger, als melancholische Songs zu schreiben. Melancholie fällt mir viel leichter, zu leicht vielleicht. Mein Ziel ist es, irgendwann mal ein Set an Songs zu haben, das alle Facetten abdeckt, das alle meine Gefühle zeigt. Das langweilt mich auch an anderen Künstlern: Die meisten sind in ihrer Musik emotional zu sehr an einen Ausdruck gebunden. Es gibt ganze Szenen, die sich um eine Emotion drehen. Angst zum Beispiel. Dabei hängen die Typen, die solche Musik machen, in Wirklichkeit an Pools in L.A. ab - während die Kids, die ihre Musik hören, sich irgendwo ihre Arme aufschneiden. Das ist doch Blödsinn, das ist Nihilismus. Ich weiß noch, wie John Lennon sich mal tierisch über diese Zeile von Neil Young aus "Hey Hey My My" aufgeregt hat: "It's better to burn out then to fade away". Lennon fand es unverantwortlich, so etwas in die Welt hinaus zu singen. Solche Botschaften können einige Leute zum falschen Zeitpunkt erreichen. Und in Wirklichkeit geht es doch ums Leben, ums Weitermachen. In meinen Songs gibt es deswegen auch immer einen Schimmer Licht.
Sind Sie ein Mensch, der sich nach Harmonie sehnt?
Ashcroft: Absolut. Das ist doch ein unrealistischer Traum, den wir alle haben. Vor allem, wenn man Kinder hat, so wie ich, wird dieser Traum noch größer. Man macht nur für fünf Minuten die Nachrichten an und denkt "Oh Gott". Man sieht, wie die Leute kämpfen, sieht ihren verzweifelten Wunsch nach Frieden, zum Beispiel im Iran. Ich interessiere mich sehr für solche Dinge, ich lese gerne über Religionen und ihre Wurzeln, wie sie entfremdet und radikalisiert wurden, wie Politiker sie benutzen und wo uns das hinführt. Auf dem letzten The-Verve-Album gab es einen Songs namens "Judas", weil Judas mich schon lange fasziniert - die Tatsache, dass die Essenz der Religion Vergebung ist und dass dieser eine Mann seit 2.000 Jahren als Sündenbock für alles Mögliche benutzt wurde. Eines Tages war ich mal in einem Café in New York. Weil es so voll war, haben sie die Leute aufgerufen, wenn der Kaffee fertig war. Plötzlich rief einer vom Tresen "Doppelter Latte für Judas!". Der ganze Laden drehte sich um, um zu sehen, wer Judas ist - weil 2.000 Jahre lang niemand Judas genannt wurde.
Wollen Sie die Leute aufwecken, wenn Sie über solche Themen singen?
Ashcroft: Das, und mir selbst ins Gesicht schlagen. Die Urbanisierung im Großteil der Welt hat viel kaputt gemacht. Die Leute starren nur auf den Boden oder ins Schaufenster oder spielen mit ihrem iPhone. Wir haben etwas verloren, das für uns Menschen sehr wichtig war, nämlich die Verbindung zu den Sternen, zum Kosmos, zur Natur und zu unserem Platz im Universum. Zu unserer Bedeutung - oder Unbedeutsamkeit.
Haben Sie ein iPhone?
Ashcroft: Ich habe mir im September eins gekauft. Mein erstes Handy. Weil ich nach Amerika ging, um dieses Album zu machen. Ich war das erste Mal von meiner Frau weg - wir sind wie Paul und Linda McCartney, wir sind nie getrennt, wirklich. Aber ich bin immer noch kein Telefon-Fan. Als die ersten Telefone kamen, diese großen Ziegelsteine, da ging es darum zu zeigen, dass man wichtig ist. Dann wurde es zum Signal an den Rest der urbanisierten Welt, dass man auch gerade mit jemand anderem verbunden und nicht alleine ist. Und mittlerweile ist es Gewohnheit und Besessenheit ...
... sodass viele Menschen sogar bei Konzerten viel lieber mit ihren Smartphones spielen und Live-Updates ins Internet stellen, statt das Konzert zu genießen.
Ashcroft: Ja, das ist die nächste Stufe von japanischen Touristen, die man in den Achtzigern zu Haufe mit ihren großen Videokameras gesehen hat und die alles gefilmt haben. Sie waren immer ein Stück entfernt vom echten Leben. "Hier ist Big Ben und die Themse" - doch sie haben sie nie in echt gesehen, weil sie immer nur durch die Kamera guckten. Ich weiß noch, ich habe mal zusammen mit Coldplay in einer Arena in Amerika gespielt und 20.000 Menschen hielten ihre Telefone in die Luft. Das ist doch verrückt. Lebt den Moment! Aber was können wir tun, hm? Jetzt hab ich ja selbst eins ... ~ Nadine Lischick (teleschau)
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