Selige Zeiten - diesmal wirklich
Die Hamburger Rockband Selig über ihr Comeback
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Selige Zeiten - diesmal wirklich
Die Hamburger Rockband Selig über ihr Comeback
27.03.2009 Das Ende kam überraschend. Eine kurze Pressemitteilung mit dem Wortlaut "Jo, das war's leider" - und Selig waren Geschichte. Eine der beliebtesten deutschsprachigen Rockbands hatte sich aufgelöst, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Für das Scheitern gab es mehr Mutmaßungen als Erklärungen. Schlimmer noch: Wer die Hamburger Schule um Bands wie Blumfeld oder Tocotronic nicht mochte, stand ziemlich allein da. 1999 war das. Sänger Jan Plewka und Drummer Stephan "Stoppel" Eggert gründeten zwischenzeitlich Zinoba und TempEau, Gitarrist Christian Neander rief mit Kungfu den "härteren Bruder von Selig" ins Leben, Keyboarder Malte Neumann versuchte sich am Saunaclub, Bassist Leo Schmidthals arbeitete unter anderem mit Echt und Joachim Witt. An die alten Erfolge konnte keines der Bandmitglieder anknüpfen. Jetzt, zehn Jahre später, sind Selig wieder da. Mit einem neuen Album, mit einer kleinen Clubtour. Die innerhalb kürzester Zeit ausverkauft war. Und das, obwohl die neue Platte noch gar nicht veröffentlicht war. Die früheren Fans scheinen ihren wiedergewonnenen Helden blind zu vertrauen. Und wenn man Jan, Stoppel und Malte so lauscht, dürfen sie das auch ruhig. Denn von alten Zwistigkeiten ist während des Interviews mal so gar nichts zu spüren. Für sie zählt die Gegenwart.
Bei Youtube ist Euer neues Video innerhalb der ersten Woche knapp 70.000 Mal abgerufen worden. Das heißt: Eure Fanbasis ist definitiv noch vorhanden - habt Ihr auch auf anderen Kanälen Feedback auf Eure Reunion bekommen?
Malte Neumann: Als wir unser Gästebuch online gestellt hatten, ging das relativ schnell. Und ich war echt gerührt, das war toll. Wow.
Stephan Eggert: Ja, das ahnte man ja gar nicht, dass man vielen Leuten so gefehlt hat, dass man so viele glückliche Stimmen erntet: "Hurra! Endlich gibt's was Neues von euch, ich hab schon gar nicht mehr dran geglaubt."
Aber habt Ihr das nicht auch bei all Euren Projekten nach Selig mitbekommen?
Eggert: Das hat und immer verfolgt, natürlich. Ständig kam die Frage: Warum ist das damals auseinandergegangen? Sagten Leute Sachen wie: "Das war so toll! Was für ein Jammer, das hat so ne Lücke gerissen!"
Warum seid Ihr denn auseinandergegangen?
Eggert (übertrieben seufzend): Wir ... sind an uns selbst gescheitert.
Neumann: Jetzt sind wir gescheiter.
Jan Plewka: Die Band hat sich wegen Reizüberflutung aufgelöst. Das waren vier Jahre, die sich wie zehn Jahre anfühlten. Damals. Und diese Halbwertszeit, diese Pause von zehn Jahren brauchten wir auch, um jetzt zusammenzukommen. Es hat sich ausgewogt.
War Streit der Grund für die Auflösung?
Eggert: Mehr stiller Streit. Wir sind nie aufeinander losgegangen. Das wurde alles so ein bisschen verdrängt. Die ganzen Konflikte, die da aufkamen ... es wäre vielleicht gut gewesen, wenn wir das viel früher hätten klären können und einer gesagt hätte, ich kann nicht mehr, lasst uns eine Pause machen. Das wurde immer schlimmer, es schwelte und dann ist es irgendwie geplatzt.
Und es war Euch in dem Moment auch egal, dass Ihr auf Eurem absoluten Karriere-Höhepunkt wart?
Plewka: Na, egal war das nicht, das war ein harter Fall.
Neumann: Das war schmerzhaft.
Plewka: Das war, als hätte Dir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen, wie agieren aus dem freien Fall. Wir haben richtig dem Wahnsinn die Hand geschüttelt. Aber es ging nicht mehr. Es ging wirklich nicht mehr. Wir bekamen echt körperliche Schmerzen, wenn der andere reinkam. Wie zwei Magnete, die einfach nicht mehr zusammen wollen.
Das ging Euch allen so?
Eggert: Nö, das jetzt nicht. Jeder hatte schon seine eigenen Beweggründe ...
Neumann: Wir beide haben ja auch noch in anderen Bands Musik gemacht. Wir haben Elektromusik gemacht, am Computer, so schön stubenhockermäßig, aber nichts mehr mit Gruppenkonsens und proben ... (Gelächter)
Plewka: Das war sehr befreiend. Oder?
Neumann: Ja, genau. Wir und der Bildschirm. Du widersprichst mir nicht! Du stürzt höchstens ab!
Eggert: Ich habe erst mal richtig lange nicht getrommelt. Ein paar Jahre. Keinen Bock drauf.
Und der Grund, jetzt wieder zusammenzufinden - mal abgesehen von der Halbwertszeit - war dann welcher?
Plewka: Um Frieden zu schließen. Mit Christian hatte ich zehn Jahre nicht geredet. Malte und ich hatten auch sechs Jahre nicht geredet, da war richtig Funkstille. Hättest Du mich vor zwei Jahren gefragt, ob es Selig je wieder geben wird, hätte ich gesagt: Niemals! Never, never! Was wir jetzt auch merken, ist, dass immer noch 'ne Selig-Flamme lodert. Weil der Kreis überhaupt nicht geschlossen war. So sehen die Leute das da draußen ja auch. Da gibt's noch ganz viel, da gibt's noch einen Weg, der zu gehen ist. Und der kam nach zehn Jahren.
Wie kam das genau?
Plewka: Das war bei Stoppel. Wir saßen zusammen in der Küche und dachten: Ha, das ist jetzt zehn Jahre her, was machen wir? Dann rief ich Leo an und Christian und Malte. Und Malte meinte: "Dass du dich jetzt meldest, ist ein Wunder! Ich hab gerade gestern mein letztes Keyboard verkauft!"
Neumann: Für wenig Geld! (Gelächter)
Und dann?
Plewka: Dann trafen wir uns, am 2. September 2007, und redeten bis zum Mai 2008. Über E-Mail, über Telefon. Dann fing ich an, mit Christian Filmmusik zu machen, um zu sehen, ob man arbeiten kann. Das lief wundervoll. Wir freundeten uns so langsam wieder an, besprachen alles. Dann gingen wir ins Studio, standen das erste Mal wieder mit Instrumenten da und dachten: Was machen wir? Das Lied spielen? Das war, wie Fahrrad fahren. Das geht blind. Und plötzlich gab's einen Wahnsinns-Flash, für alle Beteiligten. Wie ein Nahtod-Erlebnis. Die ganzen Bilder kamen hoch, die man eigentlich verdrängt hatte. Und ab da war wieder alles selig (lacht).
Auf der Platte hört man Euch extrem an, dass Ihr reifer, älter, selbstreflexiver geworden seid. Aber auch ruhiger, weniger nach vorne gehend - welche Zielgruppe wollt Ihr damit erreichen?
Plewka: Wissen wir nicht. Keine Ahnung.
Eggert: Erst mal wollen wir uns selbst ansprechen.
Plewka: Ja, genau. Wir sind unsere Zielgruppe (Gelächter). Also, den größten Erfolg haben wir eigentlich schon hinter uns. Dass wir es geschafft haben, miteinander Frieden zu schließen und diese Platte aufzunehmen. Und wenn man zwischen den Zeilen der Platte hört - das hat viel mit Vergebung und Wiedersehen zu tun. Dieses Gefühl, das ist alles auf Band gebannt. Wenn wir dieses Gefühl in die Welt hinaus tragen können, dann ist das natürlich toll. Und womöglich spricht das dann vom 14-jährigen Mädchen bis zum 60-jährigen Bluesrocker alle an.
Mal abgesehen von der Freundschaft, die gelitten hat - hat Euch das Zusammenspiel auf der Bühne gefehlt?
Plewka: Bei Selig waren das immer diese fünf unterschiedlichen Personen. Durch die Musik, die man macht, war das immer so ein wahnsinniger Rausch. Teilweise schon fast grenzüberschreitend. Weil man sich auch so fallen gelassen hat, in die Musik. Und diesen Rausch, in dem Sinne, hab' ich seitdem nicht mehr erlebt. Den anderen geht das auch so. Mit jeder Band ist irgendein Rausch da - aber so ein extremer wie damals, den gab's nicht mehr. Bei den Aufnahmen für diese Platte merkte man schon, dass dieser Sog wieder kommt. Das ist (setzt zum Lachen an), als würde man sich auf eine Droge freuen, die man lange nicht mehr genommen hat.
Also habt Ihr es doch sehr vermisst?
Plewka: Unterbewusst. Ich hab Selig echt weggeblockt. Ich wollte nur weit weg davon.
Neumann: Es ist grundsätzlich doof, wenn man weiß, man hat im Leben irgendwas liegen gelassen und es nicht zu Ende gebracht. Und das ist jetzt die Chance, die wir haben: etwas weiterzumachen und zu Ende zu bringen. Vielleicht hat man irgendwann das Gefühl: Jetzt bin ich zufrieden und mehr hab' ich auch nicht zu sagen. Danke. Tschüss. Aber bis dahin ist's, glaub' ich, noch lange hin.
Kann man den Albumtitel "Und endlich unendlich" als Vorhersage für die Zukunft von Selig hernehmen, nach dem Motto: So, jetzt wird sich nie wieder getrennt?
Plewka: Nee, ein Kreis ist ja auch unendlich. Das war das Ziel: Den Kreis zu schließen, sodass es hinhaut. Aber es fühlt sich gerade an, als würden wir noch viel zusammen machen, ja. Und wir haben ja auch daraus gelernt, dass man mal Pausen zwischendurch macht und nicht immer zusammen rumhängt. Sonst wird man wieder verrückt.
Eggert: Es gibt auch Sachen, die jeder für sich selbst erleben will. Das ist wie in einer Beziehung. Damit man auch immer wieder was Neues zu erzählen hat und die anderen Teile seiner Persönlichkeit ausleben kann.
Heißt das auch, Ihr werdet parallel zu Selig andere Projekte verfolgen?
Eggert: Das ist definitiv etwas, was wir aus der Vergangenheit gelernt haben: Dass man sich auch an anderen Sachen noch austoben muss. Und sich nicht auf den Geist geht.
Neumann: Und nicht zu viel von den anderen erwartet. Wenn man alles zusammen macht, dann erwartet man auch von den anderen, dass sie für alles da sind. Das kann so einfach nicht funktionieren. Da muss man sich auch gegenseitig freimachen.
Jan, gerade Du bist ohnehin sehr aktiv: dieses Jahr kommt ein Kinofilm mit Dir raus, letztes Jahr hast Du an einer Oper mitgewirkt, zuletzt warst Du mit Rio-Reiser-Liedern auf Tour - verliert man da nicht ein bisschen den Überblick?
Plewka: Für mich ist das super, verschiedene Baustellen zu haben. Aber Selig ist gerade so ... ich find's sehr verrückt, was wir gerade machen. Und ich find's gut. Das hat so viel mit Seelenheil zu tun. Nach zehn Jahren Groll. Dass das jetzt so positiv von außen angenommen wird - dass die Konzerte ausverkauft sind, dass sich die Leute so freuen - für uns ist das eine sehr selige Zeit. ~ Bettina Dunkel (teleschau)
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