Ein langer Blick in den Spiegel
Radiohead-Drummer Philip Selway veröffentlicht sein erstes Soloalbum
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Ein langer Blick in den Spiegel
Radiohead-Drummer Philip Selway veröffentlicht sein erstes Soloalbum
01.09.2010 Mit seinem 40. Geburtstag hätte alles angefangen, sagt Philip Selway (43) mit einem schelmischen Grinsen. Er ist seit - von ihm gefühlten - 25 Jahren Drummer von Radiohead und sucht nach Ausreden, warum er gerade jetzt ein Soloalbum aufgenommen hat. Nun: Als er feststellte, dass er genauso alt ist wie der Premierminister von England, klaubte er sein nicht vorhandenes Selbstbewusstsein zusammen und schrieb Musik. Das Ergebnis ist "Familial" (VÖ: 27.08.), ein leises Album, das Selway als Folk-Songwriter zeigt. Im Interview überspielt der bescheidene Mann seine sensible Seite gerne mit Humor. Er hat eine Glatze und sein bleiches Gesicht wirkt zunächst ausdruckslos, er selbst ein bisschen unbeholfen. Selway ist einer der viel nachdenkt, statt einfach so vor sich hinzuleben. Er will wissen, was wichtig ist, schließlich befindet er sich in der Midlifekrise. Und spielt im Übrigen tatsächlich seit 24 Jahren bei der Band, die später zu einer der wichtigsten Bands der Welt wurde.
Den Prozess der Albumveröffentlichung kennen Sie von Radiohead. Wie war es, diesmal alles alleine entscheiden zu dürfen?
Philip Selway: Zu dürfen, genau (grinst). Ja, es lief doch ein bisschen anders als gewohnt. Sonst arbeite ich in einem Verbund, wir sind zu fünft, reden und entscheiden, was Radiohead machen. Auch diesmal gab es Leute um mich herum, denn ich finde die Idee in einer Band zu arbeiten immer noch ansprechend. Aber es brauchte einen, der die endgültigen Entscheidungen trifft. Und das war in dem Fall wohl ich.
Eine neue Erfahrung, die Sie gut fanden?
Selway: Ich sag es mal so: Dieser Moment, wenn du das erste Mal bei den Aufnahmen deine Stimme hörst, das ist, wie zu lange in den Spiegel schauen. Und dann geht es ja auch noch um die Meinungen der anderen, die du magst und schätzt.
Gab es Momente, in denen Angst vor der eigenen Courage durchkam?
Selway: Und ob. Die Arbeiten an "Familial" waren für mich weniger Lernprozess. Mir wurde aber sehr klar, dass ich mehr Verantwortung trage. Weil es um mich ging, dachte ich mehr über mich selbst nach und fand Aspekte in meiner Persönlichkeit, die mir bislang verborgen blieben.
Haben Sie privat gesungen?
Selway: Sehr, sehr privat.
Also nur alleine?
Selway: Ja. Der Schritt vor anderen zu singen, war der größte Sprung, den ich mit diesem Album vollzogen habe. Die Initialzündung war das Benefizprojekt Seven Worlds Collide von Crowded-House-Sänger Neil Finn in Neuseeland. Da trat ich mit mehreren Musikern auf und präsentierte erstmals einen Song. Hätte ich das geplant, wäre ich durchgedreht, hätte mir einen unglaublichen Kopf gemacht. Aber es passierte einfach und so hatte ich gar keine Zeit nachzudenken.
Also: Nicht nachdenken, sondern machen.
Selway: Ganz genau, das ist meine Philosophie im Augenblick. Ich bin heute um vier Uhr morgens aufgestanden (haut seinen Kopf auf die Tischplatte), muss eine Menge Bälle jonglieren, spreche jetzt über mein Album, gleichzeitig passiert gerade Neues mit Radiohead. Das ist energetisierend und auch manchmal verwirrend (lacht). Aber es ist gut, die Zeit zu füllen statt nachzudenken.
Weil Sie eigentlich eher ein Grübler sind und abgelenkt werden müssen?
Selway: Ja, etwa davon, dass ich so alt bin wie David Cameron, unser Premierminister. Freilich haben wir uns mit Radiohead prächtig entwickelt, das ist keine Frage. Dann denkst du nach und stellst fest: Ich arbeite seit 25 Jahren in der Musik. 25 Jahre! Irgendwann kam der 40. Geburtstag. All das führte dazu, dass ich mir selbst eine Plattform geben wollte und schauen, was ich damit anstelle. Ich bin in der Midlifekrise.
Unterschätzen Sie die Leute?
Selway: Vermutlich nicht (lacht). Sie haben aber wahrscheinlich nicht erwartet, dass der Drummer mit einem Soloalbum kommt. Die Songs sind weit entfernt davon, den Fokus auf das Schlagzeug zu legen. Zweiter wichtiger Aspekt war, bloß nicht in die Nähe von Radiohead zu kommen.
Sie spielen seit 1986 bei derselben Band. Alles wird im Laufe einer so langen Zeit langweilig, auch der Job als Radiohead-Drummer, oder?
Selway: Natürlich, wir mussten da aus manchem kreativen Vakuum rausfinden, haben Kehrtwendungen vollzogen. Genau deswegen war es gut, dass wir immer auch in anderen Sachen steckten. Diese Vielfalt hat uns als Indie-Band bereichert. Wir haben in der Schule angefangen, miteinander Musik zu machen und sehr signifikante Momente zusammen erlebt. Auch jetzt ist da eine neue Dynamik.
Besondere Ereignisse spiegelten sich in der Arbeit von Radiohead wider. Das Album "Kid A" war Ihrem ersten Kind gewidmet, jetzt haben sie einen Song auf dem Album, der von dem Versuch handelt, Kinder vor Fehlern zu bewahren.
Selway: Ja, ich war der Erste in unserer Runde. Und als Elternteil bin ich nicht davon abzubringen, die Augen auf die Kleinen zu richten.
Sie haben eine große Familie, drei Kinder, sind bei und durch Radiohead viel unter Leuten. Über Einsamkeit werden Sie sich vermutlich nicht beklagen müssen ...
Selway: Ab und zu vermisse ich ein Gefühl der Abgeschiedenheit. Freiräume muss ich mir generell suchen, aber ich verbringe das Leben natürlich mit Leuten, die ich mir ausgesucht habe. Wie viele, die einen vollen Terminkalender haben, sind mir die "Ich-mach-was-ich-will-Zeiten" wichtig. Gott, ich hasse diesen Ausdruck, aber brauche sie hier und da.
Gab es für das Solo-Album ein einschneidendes Erlebnis?
Selway: Als meine Mutter gestorben ist, hat mich das einmal komplett durchgeschüttelt, alles auf den Kopf gestellt. Wenn deine Eltern sterben, bist du plötzlich der Älteste, stehst als Erster in der Reihe. Da kommen Gedanken über Verantwortung, aber auch über deine eigenen Erwartungen. Wo wolltest du hin? Welche Bedeutung haben deine Beziehungen? Ich bin nicht bewusst reingegangen um Themen wie diese abzuhandeln, aber es gab ein Hintergrundrauschen in meinem Kopf. Die Gedanken bestimmen diesen Teil meines Lebens und auch "Familial". Es müssen gar keine großen Krisen sein, es gibt genug kleine Verantwortungsbereiche. Allerdings: Wenn Krisen dich nach deren Bewältigung an einen Platz stellen, wo du weißt, was wichtig ist, sind sie fast zu begrüßen. ~ Claudia Nitsche (teleschau)
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